Wie kommen wir ohne Putin-Gas über den Winter?
von Marcus H.V. Lohr
Lesezeit: 9 Minuten (1.800 Wörter)
Wer das hier liest, entkommt Putins Willkür spürbar - im eigenen Geldbeutel.
Dieser Blog sucht Lösungen der Probleme, die keine sein müssten. - Ein wichtiger Bestandteil unseres Ansatzes sind kluge Fragen, denn: „In einer klugen Frage liegt die halbe Antwort“.
Wie also muss die kluge Frage lauten, um über den Winter zu kommen?
Möglicherweise ist es dazu hilfreich, Rezeptteile aus unterschiedlichen Disziplinen zu mischen, damit eine Lösung entsteht: Beginnen wir.
Der Begründer der modernen Management-Lehre, Peter F. Drucker, prägte die Erkenntnis: „Was gemessen wird, wird erreicht.“ – Dass das sehr oft stimmt, sehen wir jeden Tag. Nur messen wir häufig das Falsche, und daher erreichen wir oft das Falsche.
Die erste gute Frage ist also:
„Was müssten wir messen, um ohne Putin-Gas über den Winter zu kommen?“
Ein gutes Dashboard, wie es im Jargon heißt, also ein Armaturenbrett, beinhaltet sinnvollerweise etwas, was man als Fortschrittskennzahl bezeichnen könnte und etwas was man als Ergebnis- oder Statuskennzahl definieren würde.
Wenn wir jetzt das Rad nicht neu erfinden wollen, empfiehlt es sich vor der Dringlichkeit einmal Praxisbeispiele zu suchen, die in der Vergangenheit bereits funktioniert haben.
Vielleicht haben wir ja aus Corona etwas gelernt? – Möglicherweise ist diese Frage gut, möglicherweise provozierend.
Jedenfalls, in Corona gab es ebenfalls Engpässe. Das, was jetzt Putins Gas ist, waren in Corona-Zeiten die Intensiv-Betten. Jedenfalls zu Anfang der Pandemie. Das ging dann in Wellen. Teilweise war es dann die Krankenhausbelegung, anfangs lag der Engpass auf Masken und Hygieneartikeln, später wanderte der Engpass auf die Impfstoffe, auf die Impfzentren. – Eine Ergebniskennzahl oder Statuskennzahl wäre daher die Bettenlegung. – Die Fortschrittskennzahl war die Anzahl der Neuinfektionen oder der Neubelegungen. An dem Verhältnis konnte man die Kapazitätsgrenzen des Gesundheitssystems ablesen. – Oder als anderes Beispiel: Die Zahl der Geimpften (Ergebnis) und die laufende Zahl der Impfungen pro Tag oder pro Woche.
Es macht hier nicht nur Sinn, sondern es ist absolut erforderlich, sich die Zusammenhänge und die gegenseitigen Abhängigkeiten in einem solch komplexen System anzuschauen.
Jetzt ist leider die Systemkomplexität des Energieverbrauchs hochwahrscheinlich noch höher als die Komplexität des Gesundheitssystems. Und es ist leichter eine Corona-Krise mit etwa 60 Millionen Virologen und Epidemiologen und sonstigen „Experten“ zu überstehen, so wie es ja auch mindestens 60 Millionen FußballbundestrainerInnen gibt, als eine Energiekrise. Warum? Weil die meisten tatsächlich nicht einmal den Zusammenhang von KiloWatt und KiloWattStunde kennen. Und diese Lücke ist durch Nachplappern nicht so einfach aufzuholen. Das ist eben der Erfolg unseres Bildungssystems. Aber das wird Gegenstand eines anderen Beitrags. Zur Vertiefung:
re:publica 2022: Wolfgang Blau - Klimakrise: Das lange Warten auf den Journalismus
Die erste wichtige Erkenntnis wäre also den Engpass zu definieren.
Der Engpass ist Putins Gas.
Aus anderen Disziplinen wie dem Risikomanagement kann man jetzt folgende Technik anwenden:
1. Vermeiden (also hier übertragen: gar nicht verwenden).
2. Reduzieren (also hier weniger verbrauchen)
3. Diversifizieren (also hier etwas anderes als Gas nutzen)
4. Abfedern (Versichern, also andere dafür bezahlen lassen)
Wie kann das praktisch aussehen? Hier ist es noch wichtig zu wissen, dass Strom nur 20% unseres Gesamtenergiebedarfs deckt. 80% sind Wärme und Mobilität.
Vermeiden bedeutet etwa, eine gasbetriebene Anlage gar nicht zu benutzen. Das ist für die meisten Anwendungen am schwierigsten. – In Verbindung mit 3 (Diversifizieren) ist es aber im Bereich Stromerzeugung durchaus für diesen Winter sinnvoll, Strom nicht mehr aus der Umwandlung aus Gas zu gewinnen. – Bei der gasbetriebenen Heizung oder Warmwasseraufbereitung wird das schon schwieriger. Man könnte auf Stromheizung (Radiatoren oder Heizlüfter) ausweichen, was allerdings al Nebeneffekt auch die Stromnetze belasten könnte und daher genau analysiert werden muss, oder wer das Privileg eines Kaminofens hat, auf Holz. Dann wären wir wieder bei der Diversifizierung. Insofern könnte eine Diversifizierung der Wärme aus Strom statt Gas ein tatsächliches Zusatzargument für die kurzfristige Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke befürworten.
Hier stolpert man dann allerdings wieder auf die schlechten Rahmenbedingungen unserer Systeme. Erstens kann man in einer dringenden Situation keine langfristigen Umbauten mehr machen. Wer zum Beispiel jetzt noch keinen Kamin hat, wird bis zum Winter kaum noch einen bekommen. Und wer einen hat, wird froh sein, dass er überhaupt noch Holz bekommt. Bei der Substitution (also dem Ersetzen) der Wärme von Gas durch Strom zeigt sich ebenfalls, wie sehr unsere Systeme falsch anreizen. Strom als Premium-Form der Energie, wenn grün erzeugt sogar sehr billig und sauber, wird viel teurer gemacht als die „dreckige“ Wärmeerzeugung durch Verbrennen. – Dieses Ungleichgewicht wird jetzt durch Putin sichtbar. (Nicht, dass das nicht bekannt gewesen wäre, aber ein Windrad sieht man eben und Putin sitzt im Kreml und beeinträchtigt das eigene Gesichtsfeld nicht).
Bleibt für das eigene Verhalten das Reduzieren, damit ist der sparsamere Umgang gemeint. Von kürzer warm duschen, duschen statt baden, Radfahren statt Autofahren (durch Substitution steht dann der gesparte Sprit zum Ersatz für Gas an anderer Stelle zur Verfügung), im Sommer die Klimaanlage weniger nutzen (etwas höhere Temperatur) im Winter etwas niedrigere Temperatur, etc.
Und was dann als nicht auf Ebene der Verhaltensänderung einzelner (Personen oder Unternehmen) erreichbar ist, muss dann entsprechend abgefedert werden.
Wenn man jetzt der Betriebswirtschaftslehre noch vertrauen sollte, deren einseitige kosten- und bequemlichkeitszentrierte Sichtweise uns das Ganze ja maßgeblich eingebrockt hat, dann könnte man noch über gewisse Anreizstimulation in Richtung des gewünschten Verhaltens nachdenken. Verhaltenspsychologen, die dies erforscht haben (u.a. Nobelpreis für Richard Thaler) nennen dies „Nudging“, also anstupsen zum gewünschten Verhalten.
Wie also kommen wir über den
Winter?
Wie also könnten Anreize aussehen, ein solches Verhalten zu fördern?
Um ehrlich zu sein: Hier läuft die Zeit gegen uns. Das, was wir aus eigener Motivation und Verhaltensänderung nicht auf die Kette kriegen, wird uns durch das Markt-Preis-System als Preiserhöhung auf die Füße fallen.
An dieser Stelle ist nur zu erwähnen, dass unsere Rechts- und Wirtschaftsordnungen hier Spekulationen und Finanzmarktwetten zulassen, die die natürlichen Marktmechanismen deutlich verstärken – Korrekturen diesbezüglich werden hauptsächlich von Lobbys und Politikern aus der neoliberalen Ecke verhindert, die so etwas als leistungsgerecht definieren).
Ein Lösungsvorschlag wäre, wenn das Preissystem schon zuschlägt, dieses wenigstens zu nutzen. Man könnte ähnlich wie die Preissetzung in öffentlichen Schwimmbädern, Museen, etc. nach Kaufkraft staffeln. Also ein niedriger Preis bis zu einer Grundversorgungsmenge. Darüber wird er höher. Wer dann meint seinen Inhouse-Pool entsprechend auf 27°C heizen zu wollen (weil er das kann), der ist zwar unsolidarisch, aber er zahlt wenigstens dafür mit dem erhöhten Preis.
Die Anreize könnten aber auch psychologisch sein! Wie könnte so etwas aussehen?
1. Auf Ebene der Selbstmotivation von privaten Haushalten könnte man eine Zeitreihe bilden, auf der man, wie möglicherweise beim Abnehmen vermerkt, was man jeweils wiegt. Also Buch führt. Das ist leider mühsam, man braucht Disziplin und man bräuchte die Informationen. Leider zeigen auch hier unsere Systeme enorme blinde Flecken und das Schwänzen von Nachhilfestunden und Hausaufgaben. Zwar wissen Facebook oder Google oder amazon genau, wie wir ticken, was wir wann konsumieren, etc. Wir selbst wissen aber nicht, wie viel Energie wir letztes Jahr an einem bestimmten Tag verbraucht haben. Was wir nicht wissen, können wir dann auch nicht sichtbar machen. Jedenfalls nicht genau. Toll wäre es, wenn wir das sichtbar machen könnten und dann sagen könnten: letztes Jahr habe ich am 20. November 50 kWh verbraucht, dieses Jahr waren es nur 40 KWh. Ich habe also 20% eingespart. Und dann könnte man die gesparten kWh in einer wachsenden Grafik zeigen. So etwas motiviert.
Hier zeigt sich also ein weiteres Defizit in der Digitalisierungswüste Deutschland. (Ja, es gibt die Anstrengungen smarte Zähler zu installieren, die das sowohl für Strom, Gas, Wasser könn(t)en, aber wir können ja noch nicht einmal Telefonieren auf der Autobahn … oder Internet, denn das ist ja Neuland, jedenfalls immer noch für zu viele Politiker ehemaliger Regierungsparteien).
Wer jetzt einen Trick aus der Controlling-Erfahrung sucht, wie es halbwegs trotzdem gehen könnte:
Man wird ja wenigstens seinen Strom-Jahresverbrauch, Gasverbrauch, Ölverbrauch kennen. Entweder in kWh. Normkubikmetern meist auch umgerechnet in kWh oder Litern. Und dann sollte man etwa wöchentlich seine Zähler ablesen und aufaddieren. Dann bekommt man eine ungefähre Idee, wo man im Vergleich zum Vorjahr (für das man dann möglicherweise nur das Gesamtjahr kennt) steht.
Wer im Eigentum wohnt oder kleinen Einheiten wird hier direkt Zugang haben. Wohnungsbaugesellschaften könnten das bei großen Einheiten zur Verfügung stellen. Was man dann braucht, wäre eine saisonale Verteilung, also dass man im Sommer weniger Energie verbraucht als im Winter.
Unternehmen brauchen diese Tipps nicht, die meisten, bei denen Energie ein wesentlicher Kostenblock ist, optimieren das seit Jahren und können die Klaviatur von 1 bis 4 aus dem Risikomanagement, bis hin zur Standortverlagerung.
2. Wenn es schon für den einzelnen unbefriedigend ist mit der tagesaktuellen Datenlage, … können wir dann wenigstens ein Gesamtbild erhalten?
Die Bundesnetzagentur kennt tagesaktuell die Energiesituation. Jedenfalls im Strom und Gas. Sie könnte darstellen, wie das Robert-Koch-Institut, wie sich die Verhältnisse der Speicherfüllstände zum Verbrauch entwickeln und die Einsparbemühungen im Vergleich zum Vorjahr greifen.
Die nächste Erkenntnis kommt möglicherweise von unserem Nationaldichter Johann Wolfgang von Goethe: „Wissen (hier aus dem Gemessenen) reicht nicht, man muss auch tun.“
Die nächste gute Frage ist also:
„Was genau müssten wir tun, um unsere Anstrengungen sichtbar zu machen und unser Ziel zu erreichen?“
In jedem Fußballspiel steckt vermutlich mehr Statistik und Dashboard-Knowhow als in der ganzen Corona- und sonstigen Krisenbewältigung, jetzt auch in der Putin-Gas-Krise.
Als Ergebniskennzahlen sehen wir die ganze Zeit den Spielstand und haben die jeweilige Tabellensituation im Hinterkopf.
Als Fortschrittskennzahlen bekommen wir dauernd Informationen über die Anzahl der Ecken, Torschüsse, gewonnen Zweikämpfe, Laufwege, Ballbesitz, etc.
In diese Systeme der Fußballstatistik sind wahrscheinlich größere Summen geflossen als in die Bekämpfung der Informationssysteme und der Digitalisierung des Robert-Koch-Institutes.
Was also bräuchten wir als Minimum konkret?
1. Die tagesaktuellen Energieverbräuche nach Trägern (GAS als Engpass zuerst, danach die anderen, um die Substitution zu erkennen).
2. Die tagesaktuellen Füllstände der GAS-Speicher, weil Gas der Engpass ist.
3. Das Ganze für das letzte Jahr zum Vergleich, weil uns das ja auch als Referenz für die Zielwerte dient.
4. Und natürlich für jeden neuen Tag dieses Jahres.
5. Das könnte man in wenigen Zahlen darstellen:
a. Füllstand heute – Füllstand vor 1 Jahr – wie viel % fehlt zum SOLL
b. Verbrauch heute – Verbrauch kumuliert, jeweils im Vergleich zum Vorjahr.
c. Letztlich ist das eine fortlaufende Inventur:
Endbestand = Anfangsbestand + Zugänge – Verbrauch.
6. Dazu wären die Daten erforderlich. Hier kann sicherlich die Bundesnetzagentur ein besseres Bild abgeben als das Robert-Koch-Institut.
7. Dazu wären auch die Medien erforderlich, die sich etwa ein Beispiel am Spiegel nehmen könnten, der jeweils die verbleibende Zeit, bis unser CO2-Kontingent aufgebraucht ist, ebenfalls auf wenige Zahlen, die er stetig wiederholt, sichtbar macht. (vgl. hierzu wieder Wolfgang Blau: re:publica 2022: Wolfgang Blau - Klimakrise: Das lange Warten auf den Journalismus).
Und was passiert nach diesem Winter?
Die gute Nachricht ist: Wenn wir diesen Winter überstanden haben werden (Futur II), dann werden hoffentlich der Aha-Effekt und die Erkenntnis so groß sein, dass wir die Systeme justieren.
Was dann jede/r versuchen kann ist, selbst zum Stromproduzenten zu werden. Wer kein Eigentum hat, um Wind oder Sonne um Strom zu zapfen, kann darin auf fremden Grundstücken investieren. Die gute Frage wäre in diesem Sinne:
Wie viel installierte Leistung muss ich kaufen, um meine eigene Energierechnung zu kompensieren? Also ein Geschäftsmodell auf Ebene des eigenen Haushalts durch Sparen aufzubauen, damit der eigene Energieverbrauch kostenneutral ist.
Wer jetzt auch Möglichkeiten erkennt, wie hier unser Finanzsystem, das ja auch Opfer seines eigenen Geschäftsmodells geworden ist, hier eine positiv beschleunigende Rolle spielen könnte, … ist kein Visionär, der zum Augenarzt muss.
Bildnachweis:
Gaskraftwerk Bernburg, Wikipedia von Apde - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9855911
Der Beitrag behandelte konkrete Lösungen, wie wir über den Winter kommen. Etwas mehr Hintergrund gibt es in der Reihe „Substitutions-Elastizität“.
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